TEXT Mag. Günther Brandstetter FOTOS Hiepler, brunier | Jill Enders | Marietta Mühlfellner
Der Darm ist das größte innere Organ des Menschen, bis zu acht Meter lang und mit einer Schleimhaut ausgekleidet, die Millionen von blatt- und fingerförmigen Erhebungen, sogenannte Zotten, enthält. Würde man ihn ausfalten, wäre er mit über 250 Quadratmetern Fläche mindestens so groß wie ein Tennisplatz. Ein 75-jähriger Mensch hat in seinem Leben bereits rund 30 Tonnen feste Nahrung und 50.000 Liter Flüssigkeit verdaut. Da so eine Menge an Lebensmitteln nicht ohne Abnutzungserscheinungen durchgeschleust werden kann, verpasst sich der Darm jede Woche eine komplett neue Oberfläche. In seiner Schleimhaut sitzen über 70 Prozent der Abwehrzellen des Immunsystems, das dort von mehreren Billionen nützlicher Bakterien trainiert wird. Diese Heerscharen an Mikroorganismen, die bis zu zwei Kilogramm wiegen, helfen 90 Prozent aller Antikörper zu bilden. Ohne die winzigen Helferlein im Gedärm könnte der Mensch nicht leben.
Bis 2012 interessierten sich allerdings fast nur Ärzte und Wissenschafter für das Gewese in der Körpermitte, ansonsten war der Darm ein Tabu. Dann kam Giulia Enders und sprach erfrischend offen über Durchfall, Blähungen und wie der Darm unsere Gefühle beeinflusst. Damals war sie 22 Jahre alt, Medizinstudentin und lebte ein ganz normales Studentinnendasein in einer WG. Eines Tages fragte sie ihr Mitbewohner: „Du kennst dich aus in Medizin. Wie funktioniert eigentlich Kacken?“ Enders recherchierte, ergründete die verschlungenen Pfade des Verdauungsorgans und veröffentlichte 2014 den Bestseller „Darm mit Charme“, der sich in über 40 Ländern mehr als zwei Millionen Mal verkaufte. Seit ihrem humorvollen und trotzdem fundierten Reiseführer durch das Innere des Menschen ist es plötzlich kein Problem mehr, über Verdauungsprobleme oder die Beschaffenheit des letzten Stuhlgangs zu sprechen. „Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr den Bezug zu ihrem Körper verlieren. Es gibt aber das Bedürfnis, mit seinem Körper kollegial und freundschaftlich zusammenzuarbeiten. Mein Buch hat diesen Bedarf anscheinend gedeckt“, erklärt Enders den Erfolg von „Darm mit Charme“.
Jausenpaket für nützliche Darmbakterien
Es dürfte aber noch einen Grund geben, warum sich mittlerweile so viele Menschen für dieses „Superorgan“ interessieren. Die Zahl der Patienten mit Reizdarmsyndrom oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ist in den vergangenen 50 Jahren massiv angestiegen, vor allem in den westlichen Ländern. Mediziner und Forscher vermuten, dass unser moderner Ernährungsstil aus Fast Food und hochindustriell produzierter Fertigkost den nützlichen Darmbakterien gar nicht schmeckt. „Wir essen seit wenigen Jahrzehnten Dinge, die unser Körper vorher nicht gekannt hat“, gibt Giulia Enders zu bedenken. So vertreiben etwa künstlich gefertigte Emulgatoren wie Polysorbat 80 (E433) und Carboxymethylcellulose (E466) die guten Bewohner des Darms, gleichzeitig sind sie ein regelrechtes Festessen für entzündungsfördernde Bakterien. Diese Erkenntnisse basieren bislang allerdings nur auf Mausexperimenten. Der Grund dafür ist denkbar einfach: „Solche Untersuchungen am Menschen würde keine Ethikkommission zulassen“, sagt Christoph Gasche, Gastroenterologe an der Med-Uni Wien.
Über Umwege konnten Forscher dennoch den schädlichen Einfluss von Fertigpizzen & Co auf den Darm beobachten. Eine US-Studie an Kindern, die an Morbus Crohn erkrankt waren, hatte gezeigt, dass der völlige Verzicht auf künstliche Konservierungsmittel und Emulgatoren zu einer deutlichen Linderung der Krankheitssymptome führen kann. Viele der jungen Patienten konnten durch die Ernährungsumstellung sogar auf ihre Medikamente verzichten. „Das ist sicher kein Patentrezept, das bei allen wirkt, aber zumindest ein Ansatz“, ergänzt Enders.
Die Zusammensetzung des Mikrobioms ist zwar zum Teil genetisch bedingt, wird vor allem aber auch über Umwelteinflüsse gesteuert. Einen großen Einfluss hat demnach das, was wir in unseren Magen und damit in den Darm lassen. So sind präbiotische Nahrungsmittel beispielsweise das ideale Futter für die hilfreichen Darmbakterien. Dazu zählen etwa Kartoffelsalat, kalter Reis oder abgekühlte Nudeln. „Die darin enthaltene retrogradierte Stärke ist nicht wasserlöslich und kann von den Verdauungsenzymen kaum gespalten werden. Im Dickdarm wird sie bakteriell fermentiert und dient dann den gesundheitsfördernden Darmbakterien als Jausenpaket“, sagt der Wiener Gastroenterologe Ludwig Kramer.
Kluge Ernährung
Ein Mangel an Ballaststoffen führt hingegen zu einer verarmten Darmflora, wie eine Untersuchung von US-Forschern der renommierten Stanford University in Kalifornien zeigte. Die Wissenschaftler verpflanzten jungen Mäusen die Darmbakterien eines gesunden Menschen. Danach wurden die Tiere in zwei Gruppen eingeteilt. Ein Teil der Mäuse erhielt mehrere Wochen lang ballaststoffreiche Kost, die andere Hälfte wurde kaum mit Ballaststoffen gefüttert. Während des Experiments analysierten die Mikrobiologen, ob und wie sich das Mikrobiom der Mäuse veränderte. Das Ergebnis: Ohne Ballaststoffe verhungerte die Darmflora regelrecht, ihre Vielfalt nahm um 60 Prozent ab. Als die Tiere wieder artgerechtes Futter erhielten, erholte sich das Mikrobiom, es wurde wieder vielfältiger.
Gesundheitsfördernde Bakterienstämme brauchen demnach die für den Menschen unverdaulichen Polysaccharide, die in Pflanzen als Stärke oder als Zellulose in den Zellwänden von Getreide, Obst und Gemüse vorkommen. Die Bakterien spalten diese Bestandteile der Nahrung in immer kleinere Einheiten auf und wandeln sie in kurzkettige Fettsäuren um. Diese dienen wiederum jenen Bewohnern im Darm als Futter, die eine besondere Schutzfunktion für den Menschen haben: Sie können Entzündungen im Körper verhindern.
Die gute Nachricht: Mit Ballaststoffen können wir die Zusammensetzung des Mikrobioms gezielt verändern. Wer seinen Darm mit Vollkorngetreide, Linsen, Erbsen, Mandeln, Erd- und Haselnüssen, Bohnen, Karotten, Brokkoli, Spargel, Artischocken, Lauch, Zwiebeln, Pastinaken, aber auch mit Äpfeln und Birnen füttert, kann die Vielfalt der Darmflora positiv beeinflussen. Dieses Prinzip verfolgt auch die F. X. Mayr Kur. Es geht darum, den Darm zu schonen und schließlich mit kluger Ernährung zu regenerieren. Auf dem Speiseplan stehen Gemüsesuppen, Aufstriche, Getreidebrei, Kohlenhydrate oder schonend zubereiteter Fisch und mageres Fleisch. Ein weiteres Credo der Kur ist das bewusste Essen. Langsames Kauen hilft, das natürliche Sättigungsgefühl wieder zu spüren, der Mensch soll seine angeborene Körperintelligenz wieder zurückgewinnen.
Den Darm im Kopf behalten
Dass der Darm der heimliche Herrscher im Körper ist, wird immer weniger bezweifelt. Schließlich ist er über den Vagus-Nerv auch mit dem Gehirn verbunden. Forscher vermuten deshalb, dass ein gesundes Mikrobiom auch einen klaren Geist fördert. „Der Darm ist ja nicht nur da, um das Essen durchzuschieben, sondern steuert viele Prozesse im Körper, ohne dass wir etwas davon merken. Durch seine Vielzahl an Nervenzellen prüft er, welche Hormone sich im Blut befinden oder wie es den Immunzellen geht. Er sammelt diese Informationen, packt sie zusammen und schickt sie ans Gehirn“, erklärt Enders.
Bislang steht die Forschung dazu aber erst am Anfang. Einige Studien legen dennoch den Schluss nahe, dass die Art und Weise, wie wir uns ernähren, auch die Gefühle beeinflusst. Wer viel Junk-Food isst, neigt eher zu depressiven Verstimmungen als Menschen, die auf einen ausgewogenen Speiseplan setzen. Das scheint insofern plausibel, weil die nützlichen Darmbakterien auch das Glückshormon Serotonin produzieren, das unsere Laune hebt. So gesehen könnte es auch eine gesunde Strategie sein, notorischen Grantlern im Büro regelmäßig eine Schälchen Ballaststoffe auf den Schreibtisch zu stellen. „Wenn im Darm ein Gleichgewicht herrscht, steigt außerdem die Stresstoleranz um 10 bis 15 Prozent“, ergänzt Giulia Enders.
Auf die Haltung achten
Für die mittlerweile 29-jährige approbierte Ärztin, die an der Uniklinik in Frankfurt am Main praktiziert, ist die Sache mit dem Darm nicht zuletzt auch eine Frage der Haltung. „Vor etwa 200 Jahren hat der Mensch begonnen, sich aufs Klo zu setzen. Davor hockte er sich Jahrtausende lang in Gossen, Wald oder Wiesen, um sein Geschäft zu verrichten“, sagt Enders. Der vermeintliche zivilisatorische Fortschritt hat aber einen Haken, genau genommen einen Knick. „Wir haben den Schambein-Mastdarm-Muskel, der lassoförmig um den Enddarm herumläuft und sich beim Sitzen zusammenzieht. Dadurch macht der Darm einen kleinen Knick. Das hilft uns, beim Sitzen dicht zu bleiben“, erklärt Enders. Wer nun auf dem Klo wie auf einem Stuhl sitzt, muss gegen diesen Mechanismus andrücken. So verwundert es nicht, dass Hämorrhoiden oder Verstopfungen fast ausschließlich in Ländern ein Problem sind, in denen sich die Menschen zur Darmentleerung hinsetzen. Der Druck auf den Darm ist bei dieser Haltung einfach zu groß. „Übermäßiges Pressen auf dem Klo erhöht aber nicht nur das Risiko für Hämorrhoiden, sondern auch jenes für Schlaganfälle oder die Stuhlgangsohnmacht“, betont Enders. Gegen dieses Problem gibt es ein einfaches Rezept: Die Position der Hocke lässt sich nachahmen, indem ein Schemel vor die Kloschüssel gestellt wird. Auf den stellt man seine Füße, während man auf dem Klo sitzt. Der dadurch entstehende steilere Winkel zwischen Darm und After sorgt dafür, dass sich der Enddarm begradigt und der Stuhl leichter herausflutschen kann. Das verdaute Endergebnis sollte Enders zufolge danach nicht einfach runtergespült, sondern aufmerksam und interessiert betrachtet werden. „Der Körper spricht zu uns über den Kot, den er ausscheidet. Er schickt uns quasi ein Fax über seine Befindlichkeiten direkt in die Toilette. Diese Information sollten wir nutzen.“