Das Tête-à-Tee der Pflanzen
TEXT Eva Engel | Irmgard Kramer FOTOS Renée Del Missier | Daniel Schvarcz | hiepler, brunier
Gleißend versinkt die Abendsonne im Bodensee. Gäste sitzen in bequemen Fauteuils in der einzigartigen Teelobby der Rickatschwende, unterhalten sich am großen, massiven Eichentisch, stehen auf der großen Aussichtsterrasse. Sie nippen an zarten Teetassen, aus denen es herrlich duftet. Das Naturschauspiel über dem Bodensee setzt sich fort im Getränk und in dem Wissen, das die drei Tee-Expertinnen mit den Gästen teilen.
Gabi Österle, Aurelia Mätzler und Marlies Dünser betreuen abwechselnd unter Anleitung des Kurarztes Dr. Moosburger die Teelobby in der Rickatschwende. Sie bereiten den Tee fachkundig zu, lassen sich Zeit für Gespräche und beraten im Sinne des Arztes die Gäste. Die Zubereitungsarten spielen eine besondere Rolle, da sich abhängig von Ziehzeit und Wassertemperatur bestimmte Stoffe aus der Pflanze lösen. Die Art der Zubereitung kann entscheidenden Einfluss auf die Wirkungsweise ein und derselben Pflanzenart haben.
Schätze der Natur
Das Wissen unserer Vorfahren über Heilpflanzen hat sich über Jahrhunderte entwickelt und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Kaum einer weiß heute noch, wie die einzelnen Kräuter aussehen, wie man sie einwandfrei erkennt und welche Wirkung sie mit welcher Anwendung haben. Schon beim Pilze- und Beerensammeln stoßen viele an ihre Wissensgrenzen. Wer nicht über jahrelange Erfahrung verfügt, sollte mit Arzt und Apotheke auf Nummer sicher gehen, wenn es um Pflanzenheilkunde geht. Gegenüber der zertifizierten und geprüften Pflanze gibt es aber auch für den Pflanzenkundigen eine Unbekannte, die es nicht zu unterschätzen gilt: Pflanzen setzen sich aus unterschiedlichsten Stoffen zusammen. Die genaue Zusammensetzung variiert mitunter je nach Standort stark. Pflanze ist hier nicht gleich Pflanze und viele beliebte Heilpflanzen beinhalten auch Stoffe und Eigenschaften, die nicht erwünscht sind.
Vieles von diesem Erfahrungsschatz ist aber nur scheinbar verlorengegangen. Die moderne Phytotherapie boomt. Doch wie kann aus dem wilden Substanzgemisch einer Pflanze ein immer gleiches, standardisiertes Produkt entstehen? Pflanzen werden heute in Spezial-Labors genauestens auf ihre Wirkstoffe analysiert, bevor sie weiterverarbeitet werden zu Tees, Tinkturen, Auszügen, Salben und Gels. Es werden neue Züchtungen vorgenommen, in denen sogar Giftstoffe, wo notwendig, aus der Pflanze gezüchtet werden. Zur Sicherheit der Verbraucher werden an pflanzliche Heilmittel heute dieselben Anforderungen gestellt wie an chemische Medikamente aus der Retorte und sie werden auch entsprechend gekennzeichnet.
Die Karriere der Heilpflanzen
Pflanzenheilkunde ist heute ein gänzlich unromantisches großes Geschäft. Landwirte, die sich auf den Anbau von Heilpflanzen spezialisiert haben, gibt es immer öfter. Denn die intensive, oft von Hand durchgeführte Bodenbearbeitung, die der Anbau der empfindlichen und sensiblen Pflanzen erfordert, bedeutet für viele Menschen wieder Arbeit in der Landwirtschaft.
Die Brennnessel zum Beispiel, die ansonsten gern so manchen Hobbygärtner durch ihr ungehemmtes Wachstum ärgert, breitet sich auf dem Feld nur widerwillig aus. Und auch andere Arzneipflanzen, die in der freien Natur nebeneinander bestens gedeihen, halten so gar nichts von der Monokultur. Im Gegensatz zu Kulturpflanzen wie dem Getreide, welches bereits seit hunderten Jahren gezüchtet und optimiert wird, stehen die Landwirte und die Wissenschaft bei dem großflächigen, wirtschaftlichen Anbau von Heilpflanzen noch ganz am Anfang. Heilpflanzen sind sogenannte Nischenpflanzen. Sie haben ganz besondere Ansprüche. Sie mögen es gerne natürlich, vertragen keinen Kunstdünger und wachsen nur auf besonderen Böden.
Der wirtschaftliche Aspekt sowie die Rolle der Pflanzenheilkunde in der modernen Gesellschaft lassen sich mit eindrucksvollen Zahlen belegen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass aktuell 80 % der Weltpopulation die Pflanzenheilkunde für einige Bereiche der grundlegenden medizinischen Versorgung einsetzen. Für einen großen Teil der Weltpopulation, von der die Hälfte mit weniger als (umgerechnet) zwei US-Dollar pro Tag auskommen muss, sind kommerzielle Medikamente sehr teuer. In der Pflanzenheilkunde kann man auf Produkte der Natur zurückgreifen, die weniger oder gar nichts kosten.
um den Lärm der Welt zu vergessen.
Ruhe, Stille und eine Tasse Tee
Doch zurück in die Teelobby … Eine Teestunde mit den Kräuterfrauen der Rickatschwende ist ein wahrer Genuss. Zurücklehnen, zuhören und entdecken, was gut tut. Besonders während der F. X. Mayr Kur nimmt man Gerüche, Farben und Geschmack viel intensiver wahr. Kein Wein kann da so gut sein, wie der frisch gebrühte Tee während einer Kur schmeckt. Warum? Tee ist mild und wohltuend. Tee erleuchtet den Verstand, schärft die Sinne, verleiht Leichtigkeit und Energie, vertreibt Langeweile und Verdruss. Er reizt nicht, sondern pflegt. Das spürt der Mensch intuitiv.
In der Rickatschwende Teelobby gibt es, abgesehen von vielen zusätzlichen, frei verfügbaren Teesorten, vier große Thermobehälter mit Tagestees. Die Frauen bereiten sie hell – also leicht – zu, damit man tagsüber viel davon trinken kann. Am Abend tauschen sie die Behälter aus gegen spezielle schlaffördernde, beruhigende und entspannende Abendtees: Lavendel, Ringelblume, Passionsblüten, Kornblüte, Orangenblüte. Soll ein Tee Beschwerden lindern, muss man ihn drei bis vier Wochen lang trinken. Keinesfalls jedoch länger, weil sich der Körper daran gewöhnt und die Wirkung dann wieder ausbleibt. Alle Teesorten in der Rickatschwende sind selbstverständlich zertifiziert und auf ihre Inhaltsstoffe genau überprüft. Quendel (wilder Thymian), Spitzwegerich, Süßholzwurzel, Goldrute, Schafgarbe, Mädesüßblüte, Weidenrinde, Himmelsschlüssel, Muskatellersalbei (ein aphrodisisches Zauberkraut) – die Liste ist endlos, die Wörter so betörend wie ihre Wirkung. Wer sich daran gewöhnt hat, wird nie wieder auf herkömmlich gekaufte Teebeutel zurückgreifen.
Welcome to the bar
Dem Thema einen Raum schenken
Wie in einer Bibliothek, wo die Bücher Rücken an Rücken darauf warten, in die Hand genommen zu werden, stehen in der neuen Teelobby der Rickatschwende auf beeindruckenden 260 m2 an die hundert Teesorten in Reih und Glied bereit, getrunken zu werden. In einem von Tageslicht gefluteten, mit komfortablen Polstergruppen und Fauteuils ausgestatteten, offen gestalteten Ambiente genießen unsere Gäste ihren täglichen Tee. Wir haben uns mit dem Architekten der Rickatschwende, Thomas Hämmerle, Inhaber des Architekturbüros Planstalt in Liechtenstein, über die Entstehung des Raumes unterhalten.
Thomas, wann wurde die Teelobby in der Rickatschwende gebaut und wessen Idee war sie?
Seit Jahren hatten wir Pläne, diesen Bereich des Hauses zu einem attraktiven Ort der Kommunikation und Begegnung zu gestalten. Direktorin MMagª Sabine Alge hatte einen erheblichen Anteil an der Idee „Teelobby“ und 2014 haben wir sie dann umgesetzt.
Die Gestaltung mit den Teedosen im Regal erinnert ein wenig an eine Apotheke …
Ich habe mich während der Arbeit an diesem Projekt sehr mit den Pflanzen und ihrer Wirkung beschäftigt. Tee ist eine Heilsubstanz in Form von Kräutern, Blumen, Pflanzen. Die richtige Aufbewahrung ist für den Erhalt der Wirkstoffe äußerst wichtig. Die Dose ist das ideale Gefäß dafür und bot sich für eine entsprechende Gestaltung an.
Wer war für die Auswahl der Möbel und die Inneneinrichtung zuständig? Welches Konzept wurde verfolgt?
Sabine war bei den Möbeln federführend. Wir als Architekten bei der Innenarchitektur. Corian und Holz waren für uns die richtigen Materialien, um das Gesamtgestaltungskonzept der Rickatschwende in der Teelobby zu erweitern und umzusetzen.