Raus aus dem Käfig
TEXT Dr. Roland Wölfle ILLUSTRATION Eduard Gurevich
Ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe begleitet mich seit geraumer Zeit: „Ich ging im Walde, so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn.“ Diese erste Strophe vermittelt eine Einstellung, die manchen Haltungen der heutigen Zeit mit all der Unruhe und ihren Spannungen diametral entgegensteht.
Wie bitte!? – wird so mancher fragen. Einfach vor sich hingehen? Nichts suchen? Keine Ziele? Das geht doch gar nicht! Schade um die Zeit! Aber gerade darum geht es, um ein gesundes Gegenmodell zum zerstörerischen Alltag einer überhitzten Leistungsgesellschaft. Diese Verse verweisen uns darauf, dass wir vielleicht der beruflichen und gesellschaftlichen Hektik nicht entkommen können, aber dass wir uns dafür in der Freizeit Inseln schaffen können, in welchen wir uns der Ruhe und der Stille hingeben, in welchen wir uns dem Sein widmen und nicht das Haben verfolgen.
Was wir zunächst einmal betrachten können, ist die Frage der Balance und des Ausgleichs. Unter einem Ausgleich verstehe ich, dass es für jedes Schwarz auch ein Weiß geben soll, für jede Welle auch ein Tal, und jeder Spannung soll auch eine Entspannung folgen. Manchmal jedoch springen wir nur von einem Spannungsfeld in ein anderes.
Es lebe der Mensch
Nehmen wir zum Beispiel die Sportlerwitwe. Sie klagt, dass sie einen Mann hat, der sich, kaum dass er abends von der Arbeit nach Hause gekommen ist und ihr einen flüchtigen Kuss gegeben hat, auf sein Bike schwingt. Und dann kann sie noch seinen bunten Fahrraddressrücken und sein Hinterrad verfolgen, ihn betrachten, wie er kleiner wird und schließlich nach der Abzweigung in die Hauptstraße verschwindet. Sie wendet sich dann um, isst mit den Kindern zu Abend und fragt sich, warum sie denn eigentlich eine Familie haben. „Haben“ – wohlgemerkt, nicht „Familie sein“.
Natürlich verstehe ich ihn. Als Läufer und ehemaliger Teilnehmer an Bergmarathons weiß ich, was es bedeutet, sich einem Sport zu widmen. Und ja: Das existenzielle Sein lässt sich gerade auch im Ausdauersport auf eine hervorragende Art und Weise erfahren. Das Leben reduziert sich dann auf die einfache Frage: Wirst du es überleben oder nicht? Ich habe die wertvolle Erfahrung gemacht: Ab Kilometer 15 kannst du keine ganzen Sätze mehr denken. Das schafft wirklich Abstand und jegliches Grübeln löst sich auf wunderbare Weise in Nichts auf.
Das ist in vielerlei Hinsicht sicherlich gesund, aber es hat auch seinen Preis und der sollte nicht darin bestehen, dass wir nicht nur unsere Gelenke und Knochen, sondern auch noch unser Familienleben ruinieren. Hier geht es um die richtige Dosis oder auch eine passende Uhrzeit. Mir hat es geholfen, am Morgen zu laufen. Und ja, die Nebeneffekte waren fantastisch: In der Frühbesprechung um 8.00 Uhr fit zu sein wie ein Turnschuh, hellwach, gut durchblutet und endorphindurchströmt, das macht auch etwas mit der Ausstrahlung und das soll im Berufsleben ja nicht das Verkehrteste sein.
Was wirklich zählt
Je nach Situation ist es auch gut, sich bewusst zu sein, dass z. B. gute Freunde und ein glückliches Familienleben die besten Ressourcen sind, die wir haben können. Das will gepflegt sein und das geht nicht, wenn wir jedes Wochenende weiß Gott wo auf irgendeinem Gerät verbringen und irgendwann einmal keine anderen Themen mehr haben als die neuesten Gangschaltungen oder Tourenski-Wachsmethoden.
Das alles war jetzt natürlich maßlos übertrieben und überspitzt, aber das braucht es halt mitunter auch, um ein Thema zu illustrieren. Es liegt mir fern, andere belehren zu wollen und da halte ich es gerne mit Alfred Adler, wenn er sagt: „Es kann alles auch ganz anders sein.“
„Nichts zu suchen, das war mein Sinn“ – Dieser Gedanke spricht mich immer wieder aufs Neue an. Er widerspricht so deutlich dem Zeitgeist, in welchem das ziel- und ergebnisorientierte Denken so einen großen Stellenwert bekommen hat, wie es in unserer Kultur wohl noch nie der Fall war. Ich komme mit einer psychoanalytischen Ausbildung ja beruflich aus einer psychologischen Schule, die eine gänzlich andere Haltung vertritt. Wenn ich in manchen Vorträgen und Seminaren das ständig wiederkehrende Mantra höre: „Wir sind lösungsorientiert!“ spüre ich in mir die diebische Freude, zu sagen: „Wir nicht. Wir sind lösungsunorientiert.“ Was meine ich damit?
Lösungen sind immer mit Aktionismus verbunden, mit Handlungen, mit raschen, oft überhasteten Entscheidungen. Das hat viele Nachteile. Meistens sind die Konsequenzen nicht mitgedacht, die schnelle Lösung ist nicht nachhaltig und oft wird nur das Symptom kuriert und nicht die Ursache. Das Gegenmodell ist das von Entwicklung und Reifung. Das verlangt oft einfach Geduld sowie die immer seltener zu findende Fähigkeit, etwas abwarten zu können. Es gibt keine gesunde Möglichkeit, einen Apfel dazu zu bringen, schon im Mai reif zu sein und nicht erst im September. Wir können düngen und jäten und wir können uns um Wasser sowie einen optimalen Standort bemühen. Das wird die Pflanze uns auch lohnen, aber es braucht seine Zeit und übertreiben sollten wir es auch nicht. Angeblich werden mehr Zimmerpflanzen ersäuft, als dass sie vertrocknen. So ist es oft besser, einfach weniger zu tun und das auch noch langsamer, dann wird es zur richtigen Zeit auch einen guten Ertrag geben, denn gut Ding will Weile haben und nicht Eile. Und Ruhe soll einfach auch Ruhe sein dürfen. In der Ruhe liegt nicht die Kraft, sondern die Ruhe, sonst gar nichts.
Abwarten und Tee trinken
„Nichts zu suchen“ heißt auch, keine konkreten Ziele zu verfolgen. Denn oft sind wir dann ganz eindimensional unterwegs, mit Scheuklappen und Tunnelblick. Wir sehen nur die Karotte oder den Gipfel vor uns und all das Schöne auf der Seite bleibt uns verborgen. Und das wäre doch schade, denn:
„Im Schatten sah ich ein Blümchen stehn, wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön.“
So verhindert oft das Ziel, das immer in der Zukunft liegt, dass wir uns in Gewahrsein üben und umsichtig in der Gegenwart verweilen. Leben findet nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft statt, sondern nur im Jetzt. Und von einem bin ich sehr überzeugt: Die wichtigen Dinge, die finden nicht wir, sondern sie finden uns. Es ist wichtig, dass wir sie dann auch erkennen und dazu braucht es Zeit und Muße.
Und abschließend noch etwas ganz Verwegenes, eine Kritik am Herrn Geheimrat: Im Gedicht gräbt Goethe das Blümchen aus und pflanzt es in seinen Garten. Mir wäre lieber, er hätte es im Wald gelassen.